- Oper in Italien und Frankreich im 19. Jahrhundert
- Oper in Italien und Frankreich im 19. JahrhundertDie Geschichte der italienischen Oper im 19. Jahrhundert wird wesentlich geprägt durch die Werke von Gioacchino Rossini, Vincenzo Bellini, Gaetano Donizetti und Giuseppe Verdi, die bis heute zum festen Bühnenrepertoire zählen. Ihnen allen gemeinsam ist, trotz allmählicher stilistischer Wandlungen, ein erkennbares nationales Idiom. Dabei wirkten die Operntypen des 18. Jahrhunderts wie Opera seria, Opera buffa und die Mischung beider, die »halbernste« Opera semiseria, noch lange weiter. Neue Elemente gliederten sich ihnen fast bruchlos an, während die Grundlagen italienischer Opernkultur - Vorrang des Sängerischen, Prägnanz der Melodik, natürliche Expressivität, Klarheit der Form - erhalten blieben. Nicht die Neuheit ästhetischer Konzeptionen, sondern Einfallsreichtum und dramatischer Spürsinn garantierten den Erfolg beim Publikum. Das gilt in besonderem Maße für Rossini, der die Formensprache des 18. Jahrhunderts durch eine sprühende, vibrierende musikalische Gestik von innen her verwandelte. Nach »Tancredi« und »L'Italiana in Algeri« (beide 1813) war es vor allem sein Meisterwerk »Il barbiere di Siviglia« (»Der Barbier von Sevilla«, 1816), das ihn zum unumstritten führenden Opernkomponisten Europas machte.In den Opern Bellinis spielt erstmals romantisches Kolorit eine nicht unwesentliche Rolle. Schon mit »Il pirata« (1817), deutlicher dann mit seinem bekanntesten Werk, »Norma« (1831), tritt eine neue Gefühlsintensität der Tonsprache hervor. Sängerische Virtuosität steht zwar weiterhin im Vordergrund und prägt namentlich die weiblichen Rollen, doch zeigt sich daneben ein Bestreben nach Wahrheit und Natürlichkeit, das in den dramatischen und lyrischen Elementen der Musik seinen Ausdruck findet. Bezeichnend für Bellinis Opern ist der Formkomplex »Scena ed Aria«, eine Folge aus zwei Arienteilen mit rezitativischen und chorischen Einschüben. Auch in den Opern Donizettis dominiert ein dramatisch beweglicher Belcanto, der gelegentlich zum eingängig Populären neigt. In seiner berühmtesten Oper »Lucia di Lammermoor« (1835) finden sich neben lyrischen und leidenschaftlichen Passagen auch solche von Rossinischer Leichtigkeit und Brillanz. Das verweist auf Donizettis eminente Begabung für das heitere Genre, das ihm mit »Don Pasquale« (1843) einen durchschlagenden Erfolg einbrachte.Mit dem Werk Verdis erreicht die italienische Oper des 19. Jahrhunderts ihre vollendetste Ausprägung. Sein Schaffen umfasst 26 Opern, von denen mindestens ein Drittel zum Standard der Bühnen gehören. Nach den ersten Meisterwerken »Nabucco« (1842) und »Ernani« (1844) treten die charakteristischen Züge inniger, lebendiger und weiträumiger Gesangslinien, ausdrucksvoller Orchestergestaltung und vielfach gegliederter Szenen in »Macbeth« (1847) und »Luisa Miller« (1849) und vor allem in den drei berühmten Werken der mittleren Schaffenszeit, »Rigoletto« (1851), »Il trovatore« (»Der Troubadour«, 1853) und »La Traviata« (1853) immer deutlicher hervor. Französische Einflüsse, die jedoch ganz in eine persönliche Musiksprache integriert sind, zeigen sich in »Les vêpres siciliennes« (»Die Sizilianische Vesper«, 1855), »Un ballo in maschera« (»Ein Maskenball«, 1859) und »La forza del destino« (»Die Macht des Schicksals«, 1862), während »Don Carlos« (1867) und »Aida« (1871) in der freien Szenenbildung, im vollkommen individualisiererten Melos und im subtilen Orchestersatz einen neuen Grad reifer Meisterschaft dokumentieren. In den beiden Spätwerken schließlich, »Otello« (1887) und »Falstaff« (1893), erscheint alles Konventionelle endgültig abgestreift. Alterationsharmonik und offene Formstrukturen signalisieren nur scheinbar eine Nähe zum Musikdrama Wagners. In Wirklichkeit vollendet sich hier im Rahmen der Gesangsoper das Ideal dramatischer Wahrhaftigkeit, das Verdis Schaffen stets bestimmt hat und das eigenständig und gleichrangig neben Wagners Bestrebungen steht.Eine ganze Reihe italienischer Opern wurde für Paris geschrieben, das sich im 19. Jahrhundert zur Metropole des europäischen Geisteslebens entwickelte. Seit den Zeiten Jean-Baptiste Lullys und Jean-Philippe Rameaus spielte die Oper in Paris eine zentrale Rolle. Ihre Anziehungskraft und ihr Einfluss auf das übrige Europa im 19. Jahrhundert sind kaum zu überschätzen. Selbst Verdi und Wagner, die führenden Opernvertreter ihrer Nation, verdanken ihr entscheidende Impulse. Im Unterschied aber zu Italien und Deutschland wurde die Entwicklung in Frankreich von verschiedenen, mehr oder weniger gleichrangigen Musikern getragen, nicht von einer Verdi und WagnerWagners vergleichbaren Komponistenpersönlichkeit, die die Intentionen der Zeit zentral repräsentiert.Zu unterscheiden sind mehrere Stilphasen, die mit den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Frankreich eng zusammenhängen. Die Revolutions- und Schreckensoper des späten 18. Jahrhunderts verlor mit dem Abklingen des republikanischen Elans in der napoleonischen Ära rasch an Bedeutung. Den Hang der Zeit zum Repräsentativen und Heroischen spiegeln die französischen Opern »La Vestale« (1807), »Fernando Cortez« (1809) und »Olympie« (1819) des Italieners Gaspare Spontini, der zum Wegbereiter der »Grand opéra«, der wichtigsten französischen Opernform vor 1850, wurde. »La muette de Portici« (»Die Stumme von Portici«, 1828) von Daniel François Esprit Auber ist das erste Werk dieser Gattung, der auch Rossinis »Guillaume Tell« (1829) weitgehend angehört. Ihren Höhepunkt erreichte sie in den Opern von Giacomo Meyerbeer, der aus Deutschland stammte und über Italien 1831, ein Jahr nach der Julirevolution, nach Paris kam. Mit »Robert le diable« (»Robert der Teufel«, 1831) und »Les Huguenots« (1836) schuf er beispielgebende Werke der Grand opéra. Stilistisch verwandt und ebenfalls sehr erfolgreich war »La juive« (»Die Jüdin«, 1835) von Fromental Halévy, während Hector Berlioz mit seiner groß angelegten Oper »Les troyens« (»Die Trojaner«, 1856-58) durchaus eigene Wege ging.Kennzeichnend für die Grand opéra ist die Abfolge kontrastierender, eindrucksvoller dramatischer Bilder. Die meisten Sujets sind historisch oder pseudohistorisch angelegt und weisen eine Tendenz zum Seltsamen, Überraschenden und romantisch Übersinnlichen auf. Die Personen sind typenhaft gezeichnet und eingebunden in ethnische, rassische oder religiöse Konflikte. Daraus ergeben sich szenische Masseneffekte, schroffe Situationswechsel und damit unterschiedlichste musikalische Gestaltungen von repräsentativen Chören, Balletten und Instrumentaleinlagen über leidenschaftliche Arien, Duette und Accompagnatorezitative bis zum schlichten Lied und zur innigen Romanze. Französischer Tradition folgend ist der Gesang am Bau und der Akzentsetzung der Sprache orientiert. Das Orchester unterstützt durch kontrastreiche Klanggebung den imposanten Gesamteindruck, der nicht zuletzt auf wirkungsvollen Bühnenbildern mit ausgeklügelter Maschinentechnik und neuartigen Lichteffekten beruht. Neben der Grand opéra blieb die »Opéra-comique« weiterhin lebendig. Zu den damals erfolgreichsten Werken dieser Gattung zählen François Adrien Boieldieus »La dame blanche« (»Die weiße Dame«, 1825), Aubers »Fra Diavolo« (1830) und Adolphe Adams »Le postillon de Longjumeau« (1836).Nach 1850, in der Zeit des Zweiten Kaiserreichs, verwischten sich allmählich die Gattungsgrenzen zwischen Großer und Komischer Oper. Als neues, zwischen beiden stehendes Genre entstand das »Drame lyrique«, das die Gefühle und Leidenschaften individueller Schicksale in den Mittelpunkt stellt. Ausgehend von Charles Gounods »Faust« (1859) und »Roméo et Juliette« (1867) über Ambroise Thomas' »Mignon« (1866) führt die Entwicklung bis zu den Opern »Manon« (1884) und »Werther« (1892) von Jules Massenet, dessen sensibler Gesangsstil auf Giacomo Puccini und Claude Debussy eingewirkt hat. Die bedeutendste französische Oper dieser Epoche ist aber zweifellos »Carmen« (1875) von Georges Bizet, ein meisterhaft konzipiertes, farbiges Werk, das leidenschaftlichen Belcanto, spanisches Kolorit und klare Formgebung miteinander verbindet. Wohl keine andere Oper des 19. Jahrhunderts bringt Liebe und Tod, Sehnsucht und Verzweiflung, Lebensdrang und Schicksalsergebenheit musikalisch so unmittelbar zur Darstellung.Prof. Dr. Peter SchnausGeschichte der italienischen Oper, herausgegeben von Lorenzo Bianconi und Giorgio Pestelli. Auf 6 Bände berechnet. Aus dem Italienischen. Laaber 1990 ff.Ortkemper, Hubert: Engel wider Willen. Die Welt der Kastraten. Eine andere Operngeschichte. Taschenbuchausgabe München u. a. 1995.Schreiber, Ulrich: Opernführer für Fortgeschrittene. Eine Geschichte des Musiktheaters. 2 Bände. Lizenzausgabe Kassel u. a. 1988—91.
Universal-Lexikon. 2012.